Gerichtshof billigt Rechtsstaatskonditionalität
Die „Rechtsstaatskonditionalität“ war 2020 bei den Verhandlungen um den mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 der EU ein besonders umstrittener Punkt. Danach kann der Ministerrat auf Vorschlag der Kommission bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat Schutzmaßnahmen ergreifen, insbesondere auch die Aussetzung von Zahlungen aus dem EU-Haushalt (s. dazu Aktuelles aus Brüssel v. 20.12.2020). Wegen dieses „Konditionalitätsmechanismus‘“ hatten Ungarn und Polen den Europäischen Gerichtshof (EuGH) angerufen. In einem bahnbrechenden Urteil hat der EuGH am 16.2.2022 ihre Klagen abgewiesen und damit die Rechtmäßigkeit der Konditionalität bestätigt.
Der EuGH hält den EU-Gesetzgeber für zuständig, die Rechtsstaatskonditionalität zu regeln. Erklärtes Ziel der Regelung sei es, den Haushalt der EU vor Beeinträchtigungen zu schützen, die sich aus Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit ergeben. Solche Verstöße müssten die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen hinreichend unmittelbar beeinträchtigen oder ernsthaft zu beeinträchtigen drohen. Das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten beruhe darauf, dass diese die gemeinsamen Werte achten, auf die sich die Union gründe. Zu ihnen zählten Rechtsstaatlichkeit und Solidarität. Die Achtung der gemeinsamen Werte sei somit eine Voraussetzung für den Genuss all jener Rechte, die sich aus der Anwendung der Verträge auf einen Mitgliedstaat ergäben. Deshalb müsse die Union auch in der Lage sein, diese Werte im Rahmen der ihr übertragenen Aufgaben zu verteidigen. Die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union und ihre finanziellen Interessen könnten durch Verstöße eines Mitgliedstaates gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit schwer beeinträchtigt werden.
Der EuGH sieht in der Rechtsstaatskonditionalität keine Umgehung des in Art. 7 des EU-Vertrages vorgesehenen Sanktionsmechanismus‘. Danach kann der Rat im Falle schwerwiegender und anhaltender Verletzungen der Grundwerte der EU durch einen Mitgliedstaat gegen diesen Sanktionen verhängen. Ziel dieser Bestimmung sei es, die Verletzungen abzustellen. Die Rechtsstaatskonditionalität diene hingegen dem Schutz des Haushalts der Union.
Den Einwand, der Begriff der Rechtsstaatlichkeit sei zu unklar, weist der EuGH zurück und erläutert detailliert, was darunter zu verstehen ist. Schließlich weist der EuGH auf strenge Verfahrenserfordernisse bei der Anwendung der Rechtsstaatskonditionalität hin, etwa die Anhörung des betroffenen Mitgliedstaates.
In den Verhandlungen um den mehrjährigen Finanzrahmen 2020 hatten sich die Mitgliedstaaten und die Kommission darauf verständigt, vor einer Anwendung des Rechtsstaatskonditionalität zunächst die Entscheidung des EuGH über deren Rechtmäßigkeit in den von Ungarn und Polen angekündigten Verfahren abzuwarten. Für dieses Zuwarten wurde die Kommission vom Europäischen Parlament heftig kritisiert. Ein laufendes Gerichtsverfahren sei kein Grund, geltendes Recht nicht anzuwenden. Schließlich hat das Parlament im November 2021 sogar beim EuGH eine Untätigkeitsklage gegen die Kommission erhoben. Nachdem nunmehr feststeht, dass die Rechtsstaatskonditionalität rechtmäßig ist, wird der Druck auf die Kommission groß sein, sie nunmehr unverzüglich anzuwenden. In einer ersten Reaktion hat die Kommission allerdings erst einmal eine sorgfältige Prüfung des Urteils sowie die Ausarbeitung von Leitlinien zur Anwendung der Rechtsstaatskonditionalität angekündigt.
Die gegenwärtige Debatte hat sich auf Polen und Ungarn zugespitzt. Beide Länder werden abwägen müssen, ob sie das Risiko erheblicher Kürzungen von Zahlungen aus dem EU-Haushalt eingehen wollen. Im Falle Ungarns gibt allerdings Premierminister Orbáns Äußerung – kürzlich in einer Wahlkampfrede -, der Westen befinde sich in einem „rechtsstaatlichen Dschihad“ gegen Ungarn, wenig Hoffnung auf ein Einlenken. Selbstverständlich könnten Zahlungskürzungen aufgrund der Rechtsstaatskonditionalität auch andere Mitgliedstaaten betreffen.
Ganz abgesehen von der Rechtsstaatskonditionalität hatte der EuGH letzes Jahr schon in zwei Verfahren gegen Polen (das eine betraf Verstöße gegen EU-Regeln im Zusammenhang mit einem Kraftwerk, das andere die polnische Justizreform) von seiner Befugnis Gebrauch gemacht, bei Nichtumsetzung seiner Entscheidungen ein Zwangsgeld festzulegen. Es beträgt in dem einen Verfahren 500 000 € und in dem anderen 1 Mio € – pro Tag wohlgemerkt. Sofern sich Polen trotz mehrfacher Aufforderung und Fristsetzung weigert, die Zwangsgelder zu zahlen, wird die Kommission das Zwangsgeld bei anstehenden Auszahlungen aus den EU-Fonds gegenrechnen.
Taxonomie
Bisweilen macht die Brüsseler Begriffswelt den interessierten Zeitungsleser ratlos. Ein von der Kommission am 31.12.2021 vorgelegter Vorschlag zur „Taxonomie“ hat heftige Debatten ausgelöst. Aber was, um Himmels willen, ist Taxonomie?
Eine Presseerklärung der Kommission soll Licht ins Dunkel bringen: „Durch die EU-Taxonomie sollen private Investitionen mobilisiert und in Tätigkeiten gelenkt werden, die notwendig sind, um in den nächsten 30 Jahren Klimaneutralität zu erreichen.“ Die EU-Taxonomie sei „ein solides, wissenschaftsbasiertes Transparenzinstrument für Unternehmen und Investoren. Anleger könnten künftig bei Investitionen in Projekte und Wirtschaftstätigkeiten, die sich deutlich positiv auf Klima und Umwelt auswirkten, von der gleichen Grundlage ausgehen. Die EU-Taxonomie ist also ein Klassifizierungsinstrument, bei dem es darum geht, bestimmte Aktivitäten von Unternehmen einzuordnen und damit festzustellen, ob diese Unternehmen einen „grünen“ Beitrag leisten oder nicht. Anhand dieses Leitfadens sollen Investoren einschätzen können, ob ein Unternehmen, in das sie investieren wollen, nachhaltig arbeitet. Es geht somit – vereinfacht gesagt – um die Einordnung von Investitionen als klimaneutral.
In ihrem Vorschlag weist die Kommission darauf hin, dass der derzeitige Energiemix in Europa deutlich von einem Mitgliedstaat zum anderen variiert. Einige Teile Europas setzten nach wie vor stark auf die sehr CO2-intensive Kohle. Die Taxonomie liste Energietätigkeiten auf, die es den Mitgliedstaaten ermöglichten, sich von ihren sehr unterschiedlichen Ausgangspositionen aus in Richtung Klimaneutralität zu bewegen. Stein des Anstoßes war nun, dass die Kommission die Auffassung vertritt, „dass Erdgas und Kernenergie eine Rolle dabei zukommt, den Übergang zu einer überwiegend auf erneuerbaren Energien basierenden Zukunft zu erleichtern.“ Ein typischer (fauler?) Kompromiss also, der in Deutschland wegen der Atomenergie und anderswo wegen des Erdgases irritiert?
In der Debatte wird allerdings bisweilen übersehen, dass die Kommission ihre Einordnung an Bedingungen knüpft: Kernkraftwerke sollen als klimafreundlich gelten, wenn eine Baugenehmigung bis 2045 vorliegt und es im Land einen Plan und finanzielle Mittel für die Atommüllentsorgung gibt. Mit Blick auf Gaskraftwerke gelten Investitionen in neue Gaskraftwerke bis 2030 als nachhaltig, wenn sie unter anderem schmutzigere Kraftwerke ersetzen und bis 2035 mit klimafreundlicheren Gasen betrieben werden.
Angesichts des für solche Entscheidungen vorgesehenen Verfahrens ist nicht damit zu rechnen, dass die von der Kommission vorgeschlagene Regelung noch scheitert.
Konferenz zur Zukunft Europas – Einstimmigkeitsprinzip
Die Konferenz zur Zukunft Europas ist ein Forum, in dem Bürgerinnen und Bürger, Vertreterinnen und Vertreter der EU-Institutionen, der Mitgliedstaaten und der Zivilgesellschaft über gemeinsame europäische Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft beraten. Sie soll neue Antworten für die Zukunft der europäischen Demokratie formulieren und die nächsten Schritte der europäischen Integration vorzeichnen.
Im Rahmen dieser Konferenz wird auch über die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips bei Entscheidungen der EU diskutiert. Sicherlich ein wichtiges Thema – wie viele andere auch. Einstimmigkeit bei EU-Entscheidungen ist zwar nicht mehr die Regel, sondern die Ausnahme. Sie gilt aber noch bei vielen wichtigen Entscheidungen.
In diesem Zusammenhang bitten der Bundesverband der Europa-Union und die Jungen Europäischen Föderalisten, Pulse of Europe sowie Alliance for Europe, ihre Initiative #NoVeto zu unterstützen (Frist 20.2.):
#NoVeto: Stimmt für die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzip im Rat der EU!
Die Konferenz ist die beste Gelegenheit seit 20 Jahren, um für föderalistische Reformen der EU zu werben. Wir bitten Dich, einen wichtigen Vorschlag auf der Onlineplattform der Konferenz zu unterstützen, die am 20. Februar geschlossen wird. Wir, das ist ein.
Gemeinsam fordern wir die Europäische Union auf, das Einstimmigkeitsprinzip im Rat der EU abzuschaffen. Mit diesem Blockadeprivileg haben einzelne nationale Regierungen allein in den letzten drei Jahren mindestens 12 Entscheidungen zum Wohle aller Europäerinnen und Europäer verhindert.
Wir haben nur noch wenige Tage bis die Onlineplattform schließt. Deshalb melde Dich bitte jetzt auf der Plattform an und stimme für unseren Reformvorschlag. Wir brauchen nur 1.000 Stimmen, um die meistunterstützte Idee zu werden – und damit einen prominenten Platz im Abschlussbericht der Konferenz zu sichern. Mehr als 200 Personen haben den Vorschlag bereits unterstützt. Danke, dass Du uns hilfst.