Aktuelles aus Brüssel – 7.8.2023 

Spaniens übernimmt die Ratspräsidentschaft 

 

Spanien hat am 1.7.2023 turnusgemäß von Schweden die Präsidentschaft im Rat übernommen. Damit nimmt es den Vorsitz in den Ministerräten (mit Ausnahme des Außenministerrates, dem der Hohe Repräsentant für die Außenpolitik permanent vorsitzt) und allen nachgeordneten Gremien sowie die damit verbundene Vertretung des Rates gegenüber den anderen Institutionen (Parlament und Kommission) wahr.  

 

Die Ratspräsidentschaft bedeutet für den betroffenen Mitgliedstaat eine große Herausforderung, verschafft ihm aber zugleich eine hohe Sichtbarkeit mit dem damit verbundenen „präsidialen Prestige“. Dass während einer Präsidentschaft Wahlen und eine Regierungsbildung anstehen  

– wie jetzt im Fall Spaniens -, ist in der Vergangenheit schon öfters vorgekommen. Es erleichtert es Spanien natürlich nicht, sich voll auf seine EU-Präsidentschaft zu konzentrieren.  

 

Jede Präsidentschaft hat den Ehrgeiz, möglichst viele laufende Gesetzgebungsvorhaben abzuschließen. Dies ist für diese Präsidentschaft umso wichtiger, als im Frühjahr 2024 Wahlen zum Europäischen Parlament anstehen und deshalb wichtige Entscheidungen ab Anfang 2024 kaum noch zu erwarten sind. Dementsprechend ambitioniert ist das spanische Programm für seine sechsmonatige Präsidentschaft.  

Um nur einige wichtige Vorhaben zu nennen:   

  • Das Gesetz über künstliche Intelligenz, das weltweit erste umfassende Regelwerk zur Bewältigung von KI-Risiken, soll bis Jahresende verabschiedet werden.  
  • Auch soll über den Europäische Gesundheitsdatenraum entschieden werden, der eine stärkere Verknüpfung der nationalen Gesundheitssysteme innerhalb der EU durch einen sicheren und effizienten Austausch von Gesundheitsdaten zum Ziel hat.  
  • Die Verhandlungen über die von der Kommission im März vorgeschlagene eine Reform des EU-Strommarktes sollen bis Jahresende zum Abschluss gebracht werden. Die Reform will den Ausbau erneuerbarer Energien ebenso wie den Ausstieg aus dem Gas beschleunigen und die Haushalte vor Preisschwankungen für fossile Brennstoffe, künftigen Preisspitzen und Marktmanipulation schützen. 
  • Besonders umstritten ist das Gesetz über die Wiederherstellung der Natur, das darauf abzielt, geschädigte Ökosysteme wiederherzustellen und den Verlust der biologischen Vielfalt zu stoppen. Am 12. Juli hat das Europäische Parlament diesem Gesetz nach wochenlangen Debatten mit knapper Mehrheit und gegen den heftigen Widerstand der konservativen Fraktionen zugestimmt, allerdings um den Preis erheblicher Abschwächungen gegenüber dem Vorschlag der Kommission. Insbesondere strich das Parlament die vorgeschlagene Regelung über die Wiederherstellung landwirtschaftlicher Flächen und verzichtete damit auf einen wesentlichen Hebel zur Steigerung der Kohlenstoffbindung und zur Bekämpfung der intensiven Landwirtschaft. Die weiteren Verhandlungen im sog. „Trilog“ (zwischen Parlament, Kommission und Rat) werden sich aller Voraussicht nach als sehr schwierig gestalten. 
  • Die von der Kommission im Rahmen der Halbzeitüberprüfung des Mehrjährigen Finanzrahmens 2021-2027 vorgeschlagene Aufstockung des EU-Haushalts erscheint zwar unausweichlich – nicht zuletzt mit Blick auf eine langfristige Unterstützung der Ukraine und die Herausforderungen der Migration. Wegen der in Haushaltsfragen traditionell unterschiedlichen Interessenlagen der Mitgliedstaaten und wegen der für solche Entscheidungen erforderlichen Einstimmigkeit im Rat ist aber mit schwierigen und langwierigen Verhandlungen zu rechnen. 

 

Neben diesen wichtigen (und noch vielen weiteren) Vorhaben wird der Ukraine-Krieg die ganze Aufmerksamkeit der spanischen Präsidentschaft fordern, etwa bei Entscheidungen über weitere Sanktionen gegen Russland, Weißrussland sowie diese Sanktionen umgehende Drittstaaten, über militärische und zivile Hilfen für die Ukraine, über Hilfsmaßnahmen zum Ausgleich der russischen Blockade ukrainischer Getreideexporte und nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Ukraine auf einen möglichen EU-Beitritt. 

 

Ratspräsidentschaften Ungarns und Polens 2024/2025? 

 

Ratspräsidentschaften wechseln alle sechs Monate in einer vom Europäischen Rat festgelegten Reihenfolge, die eine ausgewogene Abfolge sowohl regional und wie auch zwischen großen und kleinen Mitgliedstaaten sicherstellen soll. Nach Belgiens Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2024 sind Ungarn im Herbst 2024 und   Polen im Frühjahr 2025 an der Reihe.  

 

Bekanntlich gibt es in diesen zwei Mitgliedstaaten erhebliche Defizite hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit und des Funktionierens demokratischer Institutionen.  Insofern sind im Europäischen Parlament und von Nichtregierungsorganisationen Zweifel daran geäußert worden, ob Ungarn und Polen turnusgemäß ihre Präsidentschaften übernehmen können, wenn die EU gleichzeitig gegen sie Maßnahmen wegen Rechtsstaats- und Demokratiedefiziten ergreift.  Änderungen in der Reihenfolge der Präsidentschaften hat es gelegentlich schon gegeben. So tauschten etwa auf deutsches Ersuchen Finnland und Deutschland ihre Präsidentschaften 2006/2007, weil Deutschland vermeiden wollte, dass die Bundestagswahl 2006 in ihre Präsidentschaft fiel. Solche Änderungen erfolgten aber immer einvernehmlich, also nie gegen den Willen des Mitgliedstaates, der eigentlich „dran war“. Eine Verschiebung der Präsidentschaft gegen den Willen des betroffenen Mitgliedstaates dürfte dagegen rechtlich schwierig sein und würde vermutlich auch viel politisches Porzellan zerschlagen. Denkbar wäre eventuell, dass Ungarn und Polen die Behandlung sie unmittelbar betreffender Verfahren einem vorher oder nachher präsidierenden Mitgliedstaat (sog. „Troika“) überlassen würde.  

 

 

Einigung über Migration?  

 

Im Juni hat sich der Rat auf eine Verhandlungsposition zur Asylverfahrensverordnung und zur Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement verständigt – ein entscheidender Schritt zur Modernisierung des Regelwerks der EU für Asyl und Migration auf der Grundlage des von der Kommission 2020 vorgeschlagenen Migrationspakets. Diese Verhandlungsposition ist die Grundlage für die jetzt folgenden Verhandlungen des Ratsvorsitzes mit dem Europäischen Parlament.  

Die Asylverfahrensverordnung führt ein gemeinsames, in allen Mitgliedstaaten bindendes Verfahren für Personen ein, die um internationalen Schutz nachsuchen. Sie strafft die Verfahrensmodalitäten (z. B. die Dauer des Verfahrens) und legt Standards für die Rechte des Asylsuchenden fest (z. B. die Bereitstellung eines Dolmetschers oder der Anspruch auf Rechtsberatung und vertretung). Die Verordnung will auch einem Missbrauch des Systems zu vorbeugen. Sie verpflichtet Antragsteller zur Zusammenarbeit mit den Behörden während des gesamten Verfahrens. 

Ferner führt die Verordnung ein Grenzverfahren ein, mit dem bereits an den Außengrenzen der EU rasch festgestellt werden soll, ob Anträge unbegründet oder unzulässig sind. Personen, die dem Asylverfahren an der Grenze unterliegen, dürfen nicht in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats einreisen. Zur Durchführung solcher Grenzverfahren müssen die Mitgliedstaaten angemessene Aufnahme- und Personalkapazitäten aufbauen, um jederzeit eine bestimmte Zahl von Anträgen prüfen und Rückkehrentscheidungen vollstrecken zu können.  

Zweck der Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement ist es zunächst, den Mitgliedstaat zu bestimmen, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist. Außerdem wird ein neuer Mechanismus für Migrationsmanagement und Solidarität eingeführt, der eine gleichmäßigere Verteilung der Migranten innerhalb der EU gewährleisten soll. Dieser Mechanismus soll das derzeitige System ausbalancieren, bei dem nur wenige Mitgliedstaaten für die überwiegende Mehrheit der Asylanträge zuständig sind. Unterschiedliche Beiträge der Mitgliedstaaten (Übernahmen von Flüchtlingen aus Ankunftsländern, Ausgleichszahlungen für nicht übernommene Flüchtlinge oder alternative Solidaritätsmaßnahmen wie die Entsendung von Personal oder Maßnahmen mit Schwerpunkt auf Kapazitätsaufbau) sollen Solidarität und Flexibilität miteinander kombinieren. 

Die Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement enthält überdies Maßnahmen zur Verhinderung von Sekundärmigration (wenn ein Migrant das Land verlässt, in dem er zuerst angekommen ist, um woanders Schutz zu suchen oder eine dauerhafte Neuansiedlung zu erreichen).  

Die Einigung im Rat haben viele Politiker als „historischen Durchbruch“ gefeiert. Allerdings haben Polen und Ungarn, die im Rat dagegen gestimmt hatten, im Juli im Europäischen Rat – vergeblich – versucht, die Einigung grundsätzlich wieder in Frage zu stellen. Dass Mitgliedstaaten eine gegen ihre Stimme im Rat getroffene Mehrheitsentscheidung danach im Europäischen Rat zu „kippen“ versuchen, ist – gelinde gesagt – ungewöhnlich und wurde deshalb auch von den meisten Staats- und Regierungschefs zurückgewiesen.    

Auch im Parlament sind noch schwierige Diskussionen zu erwarten.  

So bleibt die Migrationspolitik eines der kompliziertesten und umstrittensten Dossiers auf der europäischen Agenda. 

Reinhard Priebe 

 

 

 

 

 

 

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