Aktuelles aus Brüssel – 2.11.2022

Aktuelles aus Brüssel – 2.11.2022

Erweiterungspaket 2022

Am 12. Oktober 2022 hat die Europäische Kommission ihre diesjährige Bewertung der Reformen in den Westbalkanländern und in der Türkei vorgelegt.  In ihrer „Mitteilung über die Erweiterungspolitik der EU“ und den angefügten Länderberichten zeigt sie auf, welche Fortschritte die Beitrittsaspiranten auf ihrem Weg zur EU im letzten Jahr erzielt haben und wo es Defizite gibt. Empfehlungen für weitere Reformen sollen ihnen helfen, dem Ziel der EU-Mitgliedschaft näherzukommen.

Die Mitteilung verweist eingangs auf die von den Führungsspitzen der EU und des Westbalkans im Juni 2022 neuerlich bekräftigte EU-Mitgliedschaftsperspektive der Region. Zwar sei auch die Türkei Beitrittskandidat, die Beitrittsverhandlungen stünden jedoch seit 2018 still. Das Land habe sich mit weiteren Rückschritten in wichtigen Bereichen sowie dem Ausbleiben von Reformen „noch weiter von der EU entfernt“.

Auf über 900 Seiten (die einzelnen Länderberichte umfassen jeweils über 100, die allgemeine Mitteilung 90 Seiten) legt die Kommission dar, wo die Länder hinsichtlich der Grundsätze und der Regeln der EU in den einzelnen Politikfeldern stehen und welche Schritte sie unternehmen müssen, um die Beitrittsvoraussetzungen zu erfüllen. Wie immer ist das Bild gemischt: Einigen positiven Entwicklungen – wie etwa die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien – stehen Stillstand, bisweilen auch Rückschritte in wichtigen Bereichen gegenüber.

Die durch den russischen Angriff auf die Ukraine gewandelte geopolitische Lage in Europa hebt die Kommission besonders hervor. Der Angriff verdeutliche mehr denn je, “dass die Aussicht auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union starken Rückhalt bietet, nicht nur was Wohlstand, sondern auch was Frieden und Sicherheit angeht.“ Die geopolitischen Herausforderungen führten zu einer Annäherung zwischen der EU und dem Westbalkan und erforderten eine “uneingeschränkte gegenseitige Solidarität.” Auch haben sich mit Ausnahme Serbiens alle Westbalkanstaaten an den EU-Sanktionen gegen Russland beteiligt. Die Kommission fordert Serbien auf, „seine Bemühungen um eine schrittweise Angleichung an die außenpolitischen Standpunkte der EU, einschließlich der … restriktiven Maßnahmen, (zu verstärken).“

Der Vorschlag der Kommission, Bosnien und Herzegowina (BiH) den Kandidatenstatus zu gewähren, hat einiges Stirnrunzeln ausgelöst; ob die Mitgliedsstaaten ihm folgen werden, bleibt abzuwarten. Der von der Kommission in ihrem Bericht hervorgehobene Mangel an Fortschritten widerspricht eigentlich einer „Aufwertung“ dieses Landes zum Beitrittskandidaten. Andererseits hätte die EU es sich nach jahrelangen Anstrengungen kaum leisten können, BiH den Kandidatenstatus zu verwehren, zumal nachdem der Ukraine und Moldau dieser Status sofort nach ihren Beitrittsanträgen Anfang des Jahres zugestanden worden war. Der Kandidatenstatus mag für BiH und die Region ein wichtiges politisches Signal sein, unmittelbare Folgen hat er aber nicht. Ohne die von der EU eingeforderten Reformen liegt für BiH die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen als nächster Schritt im Beitrittsprozess in weiter Ferne.

Kosovo bliebe damit das einzige Westbalkanland (und neben Georgien das einzige Land im Erweiterungsprozess), das den Kandidatenstatus noch nicht erreicht hat. Nach wie vor kommt die Normalisierung zwischen Serbien und Kosovo, eines der wichtigsten außenpolitischen Anliegen der EU im Westbalkan, nicht recht voran. Die Kommission erwartet von beiden Ländern, „dass (sie) sich … konstruktiver an den Verhandlungen über das rechtsverbindliche Normalisierungsabkommen beteilig(en) und Kompromissbereitschaft zeig(en), damit rasch konkrete Fortschritte erzielt werden.“ Nach wie vor setzt allerdings der Umstand, dass fünf EU-Mitgliedstaaten das Land immer noch nicht als Staat anerkennen, dessen weiteren Annäherung an die EU enge Grenzen.

Wie üblich konzentrieren sich die Länderberichte auf die „wesentlichen Elemente des Beitrittsprozesses“, nämlich auf funktionsfähige demokratische Institutionen, Justiz und Grundrechte, Recht, Freiheit und Sicherheit, die Reform der öffentlichen Verwaltung und die Zivilgesellschaft. In ihrer Mitteilung beschreibt die Kommission auch eine Vielzahl von Initiativen, die die Heranführung der Länder an die EU beschleunigen sollen. Sie hebt die Bedeutung des „Wirtschafts- und Investitionsplans für den Westbalkan“ sowie die inzwischen gut funktionierende regionale Zusammenarbeit in vielen Bereichen (insbes. Verkehr, Energie, Umwelt- und Klimaschutz) hervor. So zeichnen sich ein immer enger verflochtener Wirtschaftsraum in der Region sowie ihre verstärkte wirtschaftliche Anbindung an den EU-Binnenmarkt deutlich ab.

Mit ihrer detaillierten Bewertung trägt die Kommission zur Berechenbarkeit und damit auch zur Glaubwürdigkeit des Erweiterungsprozesses – sowohl innerhalb der EU wie in den Beitrittsländern – bei. Die neue Lage in Europa und die damit verbundene Annäherung an die EU könnten für den Westbalkan eine Chance sein, im Erweiterungsprozess nach vielen Verzögerungen endlich schneller voranzukommen. Allerdings dürfte die in der Region bisweilen gehegte Hoffnung kaum realistisch sein, die Beitrittsanträge der Ukraine und Moldaus und deren umgehende Ernennung zu Beitrittskandidaten würden ohne Weiteres eine Beschleunigung des Beitrittsprozesses auf dem Balkan nach sich ziehen. Nichts deutet darauf hin, dass die EU ihre strengen Beitrittsanforderungen abschwächen könnte.

 

Energiekrise – europäische Maßnahmen

Die im Zusammenhang mit dem russischen Angriff auf die Ukraine ausgelöste Energie- und Wirtschaftskrise stellt alle Mitgliedstaaten vor enorme Herausforderungen. Die Notwendigkeit gemeinsamen Handels auf europäischer Ebene ist einerseits offensichtlich, andererseits ist die Versuchung nationaler Politiker, zumal in den größeren Mitgliedstaaten, groß, für ihr Land allein Maßnahmen zu ergreifen. So hat die Ankündigung des 200 Mrd. €-Pakets für Deutschland, offenbar ohne vorherige Konsultation unter den europäischen Partnern und insbesondere zwischen Frankreich und Deutschland zu deutlicher Verstimmung geführt.

Der Europäische Rat hat am 20.10.2022 die Lage eingehend diskutiert, ohne aber zu abschließenden Entscheidungen zu kommen. Angesichts der Instrumentalisierung von Energie als Waffe durch Russland werde die Europäische Union geeint bleiben, um ihre Bürgerinnen und Bürger sowie ihre Unternehmen zu schützen. Sie werde vordringlich die notwendigen Maßnahmen ergreifen. Die Anstrengungen zur Verringerung der Nachfrage, zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit, zur Vermeidung einer Rationierung und zur Senkung der Energiepreise für Haushalte und Unternehmen in der gesamten Union müssten beschleunigt und intensiviert werden. Dabei sei die Integrität des Binnenmarktes zu wahren.

Der Europäische Rat beauftragte den Rat und die Kommission, dringend konkrete Beschlüsse zu fassen, und zwar insbesondere über (1) die freiwillige gemeinsame Beschaffung von Gas für eine Menge in Höhe von 15 % des Speicherbedarfs und die Beschleunigung der Verhandlungen mit zuverlässigen Partnern, (2) einen neuen zusätzlichen Richtwert, der die Bedingungen auf dem Gasmarkt genauer widerspiegelt, bis Anfang 2023, (3) einen befristeten dynamischen Preiskorridor für Erdgasgeschäfte, „um Phasen exzessiver Gaspreise unmittelbar zu begrenzen“, (4) einen befristeten EU-Rahmen zur Begrenzung des Preises von zur Stromerzeugung genutztem Gas, (5) eine Verbesserung der Funktionsweise der Energiemärkte, „um die Markttransparenz zu erhöhen, Liquiditätsstress abzubauen und Faktoren zu beseitigen, die die Gaspreisschwankungen verstärken, während der Erhalt der Finanzstabilität gewährleistet wird“, (6) die rasche Vereinfachung von Genehmigungsverfahren, um den Ausbau der erneuerbaren Energien und der Energienetze zu beschleunigen, (7) Energiesolidaritätsmaßnahmen bei Störungen der Gasversorgung auf nationaler, regionaler oder Unionsebene sowie  (8) verstärkte Energiesparanstrengungen.

Der Europäische Rat betonte, es sei „unmittelbare Priorität“, Haushalte und Unternehmen, insbesondere die Schwächsten in unseren Gesellschaften, zu schützen. Ebenso wichtig sei es, die globale Wettbewerbsfähigkeit der Union aufrechtzuerhalten. Der Europäische Rat unterstrich auch die Bedeutung einer engen Abstimmung und gegebenenfalls gemeinsamer Lösungen auf europäischer Ebene und setzt sich dafür ein, politische Ziele in geeinter Weise zu verwirklichen.

In einer ersten Runde haben die Energieminister der EU am 25.10.2022 über einzelne Maßnahmen beraten. Viele Fragen bleiben noch offen; zu unterschiedlich sind die Energieversorgungslage in den einzelnen Mitgliedstaaten und die daraus resultierenden nationalen Interessenlagen. So ist etwa ein Konsens über einen (strikten) Gaspreisdeckel noch nicht in Sicht.

Wie schon die Corona-Pandemie stellt auch die jetzige Energie- und Wirtschaftskrise die europäische Solidarität auf den Prüfstein. Divergenzen zwischen den europäischen Partnern kämen Russland nur gelegen. Nationale Sonderwege dürften aber kaum zu besseren Lösungen führen als gemeinsames europäisches Handeln.

 

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