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Aktuelles aus Brüssel – 7.8.2023 

Spaniens übernimmt die Ratspräsidentschaft 

 

Spanien hat am 1.7.2023 turnusgemäß von Schweden die Präsidentschaft im Rat übernommen. Damit nimmt es den Vorsitz in den Ministerräten (mit Ausnahme des Außenministerrates, dem der Hohe Repräsentant für die Außenpolitik permanent vorsitzt) und allen nachgeordneten Gremien sowie die damit verbundene Vertretung des Rates gegenüber den anderen Institutionen (Parlament und Kommission) wahr.  

 

Die Ratspräsidentschaft bedeutet für den betroffenen Mitgliedstaat eine große Herausforderung, verschafft ihm aber zugleich eine hohe Sichtbarkeit mit dem damit verbundenen „präsidialen Prestige“. Dass während einer Präsidentschaft Wahlen und eine Regierungsbildung anstehen  

– wie jetzt im Fall Spaniens -, ist in der Vergangenheit schon öfters vorgekommen. Es erleichtert es Spanien natürlich nicht, sich voll auf seine EU-Präsidentschaft zu konzentrieren.  

 

Jede Präsidentschaft hat den Ehrgeiz, möglichst viele laufende Gesetzgebungsvorhaben abzuschließen. Dies ist für diese Präsidentschaft umso wichtiger, als im Frühjahr 2024 Wahlen zum Europäischen Parlament anstehen und deshalb wichtige Entscheidungen ab Anfang 2024 kaum noch zu erwarten sind. Dementsprechend ambitioniert ist das spanische Programm für seine sechsmonatige Präsidentschaft.  

Um nur einige wichtige Vorhaben zu nennen:   

  • Das Gesetz über künstliche Intelligenz, das weltweit erste umfassende Regelwerk zur Bewältigung von KI-Risiken, soll bis Jahresende verabschiedet werden.  
  • Auch soll über den Europäische Gesundheitsdatenraum entschieden werden, der eine stärkere Verknüpfung der nationalen Gesundheitssysteme innerhalb der EU durch einen sicheren und effizienten Austausch von Gesundheitsdaten zum Ziel hat.  
  • Die Verhandlungen über die von der Kommission im März vorgeschlagene eine Reform des EU-Strommarktes sollen bis Jahresende zum Abschluss gebracht werden. Die Reform will den Ausbau erneuerbarer Energien ebenso wie den Ausstieg aus dem Gas beschleunigen und die Haushalte vor Preisschwankungen für fossile Brennstoffe, künftigen Preisspitzen und Marktmanipulation schützen. 
  • Besonders umstritten ist das Gesetz über die Wiederherstellung der Natur, das darauf abzielt, geschädigte Ökosysteme wiederherzustellen und den Verlust der biologischen Vielfalt zu stoppen. Am 12. Juli hat das Europäische Parlament diesem Gesetz nach wochenlangen Debatten mit knapper Mehrheit und gegen den heftigen Widerstand der konservativen Fraktionen zugestimmt, allerdings um den Preis erheblicher Abschwächungen gegenüber dem Vorschlag der Kommission. Insbesondere strich das Parlament die vorgeschlagene Regelung über die Wiederherstellung landwirtschaftlicher Flächen und verzichtete damit auf einen wesentlichen Hebel zur Steigerung der Kohlenstoffbindung und zur Bekämpfung der intensiven Landwirtschaft. Die weiteren Verhandlungen im sog. „Trilog“ (zwischen Parlament, Kommission und Rat) werden sich aller Voraussicht nach als sehr schwierig gestalten. 
  • Die von der Kommission im Rahmen der Halbzeitüberprüfung des Mehrjährigen Finanzrahmens 2021-2027 vorgeschlagene Aufstockung des EU-Haushalts erscheint zwar unausweichlich – nicht zuletzt mit Blick auf eine langfristige Unterstützung der Ukraine und die Herausforderungen der Migration. Wegen der in Haushaltsfragen traditionell unterschiedlichen Interessenlagen der Mitgliedstaaten und wegen der für solche Entscheidungen erforderlichen Einstimmigkeit im Rat ist aber mit schwierigen und langwierigen Verhandlungen zu rechnen. 

 

Neben diesen wichtigen (und noch vielen weiteren) Vorhaben wird der Ukraine-Krieg die ganze Aufmerksamkeit der spanischen Präsidentschaft fordern, etwa bei Entscheidungen über weitere Sanktionen gegen Russland, Weißrussland sowie diese Sanktionen umgehende Drittstaaten, über militärische und zivile Hilfen für die Ukraine, über Hilfsmaßnahmen zum Ausgleich der russischen Blockade ukrainischer Getreideexporte und nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Ukraine auf einen möglichen EU-Beitritt. 

 

Ratspräsidentschaften Ungarns und Polens 2024/2025? 

 

Ratspräsidentschaften wechseln alle sechs Monate in einer vom Europäischen Rat festgelegten Reihenfolge, die eine ausgewogene Abfolge sowohl regional und wie auch zwischen großen und kleinen Mitgliedstaaten sicherstellen soll. Nach Belgiens Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2024 sind Ungarn im Herbst 2024 und   Polen im Frühjahr 2025 an der Reihe.  

 

Bekanntlich gibt es in diesen zwei Mitgliedstaaten erhebliche Defizite hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit und des Funktionierens demokratischer Institutionen.  Insofern sind im Europäischen Parlament und von Nichtregierungsorganisationen Zweifel daran geäußert worden, ob Ungarn und Polen turnusgemäß ihre Präsidentschaften übernehmen können, wenn die EU gleichzeitig gegen sie Maßnahmen wegen Rechtsstaats- und Demokratiedefiziten ergreift.  Änderungen in der Reihenfolge der Präsidentschaften hat es gelegentlich schon gegeben. So tauschten etwa auf deutsches Ersuchen Finnland und Deutschland ihre Präsidentschaften 2006/2007, weil Deutschland vermeiden wollte, dass die Bundestagswahl 2006 in ihre Präsidentschaft fiel. Solche Änderungen erfolgten aber immer einvernehmlich, also nie gegen den Willen des Mitgliedstaates, der eigentlich „dran war“. Eine Verschiebung der Präsidentschaft gegen den Willen des betroffenen Mitgliedstaates dürfte dagegen rechtlich schwierig sein und würde vermutlich auch viel politisches Porzellan zerschlagen. Denkbar wäre eventuell, dass Ungarn und Polen die Behandlung sie unmittelbar betreffender Verfahren einem vorher oder nachher präsidierenden Mitgliedstaat (sog. „Troika“) überlassen würde.  

 

 

Einigung über Migration?  

 

Im Juni hat sich der Rat auf eine Verhandlungsposition zur Asylverfahrensverordnung und zur Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement verständigt – ein entscheidender Schritt zur Modernisierung des Regelwerks der EU für Asyl und Migration auf der Grundlage des von der Kommission 2020 vorgeschlagenen Migrationspakets. Diese Verhandlungsposition ist die Grundlage für die jetzt folgenden Verhandlungen des Ratsvorsitzes mit dem Europäischen Parlament.  

Die Asylverfahrensverordnung führt ein gemeinsames, in allen Mitgliedstaaten bindendes Verfahren für Personen ein, die um internationalen Schutz nachsuchen. Sie strafft die Verfahrensmodalitäten (z. B. die Dauer des Verfahrens) und legt Standards für die Rechte des Asylsuchenden fest (z. B. die Bereitstellung eines Dolmetschers oder der Anspruch auf Rechtsberatung und vertretung). Die Verordnung will auch einem Missbrauch des Systems zu vorbeugen. Sie verpflichtet Antragsteller zur Zusammenarbeit mit den Behörden während des gesamten Verfahrens. 

Ferner führt die Verordnung ein Grenzverfahren ein, mit dem bereits an den Außengrenzen der EU rasch festgestellt werden soll, ob Anträge unbegründet oder unzulässig sind. Personen, die dem Asylverfahren an der Grenze unterliegen, dürfen nicht in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats einreisen. Zur Durchführung solcher Grenzverfahren müssen die Mitgliedstaaten angemessene Aufnahme- und Personalkapazitäten aufbauen, um jederzeit eine bestimmte Zahl von Anträgen prüfen und Rückkehrentscheidungen vollstrecken zu können.  

Zweck der Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement ist es zunächst, den Mitgliedstaat zu bestimmen, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist. Außerdem wird ein neuer Mechanismus für Migrationsmanagement und Solidarität eingeführt, der eine gleichmäßigere Verteilung der Migranten innerhalb der EU gewährleisten soll. Dieser Mechanismus soll das derzeitige System ausbalancieren, bei dem nur wenige Mitgliedstaaten für die überwiegende Mehrheit der Asylanträge zuständig sind. Unterschiedliche Beiträge der Mitgliedstaaten (Übernahmen von Flüchtlingen aus Ankunftsländern, Ausgleichszahlungen für nicht übernommene Flüchtlinge oder alternative Solidaritätsmaßnahmen wie die Entsendung von Personal oder Maßnahmen mit Schwerpunkt auf Kapazitätsaufbau) sollen Solidarität und Flexibilität miteinander kombinieren. 

Die Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement enthält überdies Maßnahmen zur Verhinderung von Sekundärmigration (wenn ein Migrant das Land verlässt, in dem er zuerst angekommen ist, um woanders Schutz zu suchen oder eine dauerhafte Neuansiedlung zu erreichen).  

Die Einigung im Rat haben viele Politiker als „historischen Durchbruch“ gefeiert. Allerdings haben Polen und Ungarn, die im Rat dagegen gestimmt hatten, im Juli im Europäischen Rat – vergeblich – versucht, die Einigung grundsätzlich wieder in Frage zu stellen. Dass Mitgliedstaaten eine gegen ihre Stimme im Rat getroffene Mehrheitsentscheidung danach im Europäischen Rat zu „kippen“ versuchen, ist – gelinde gesagt – ungewöhnlich und wurde deshalb auch von den meisten Staats- und Regierungschefs zurückgewiesen.    

Auch im Parlament sind noch schwierige Diskussionen zu erwarten.  

So bleibt die Migrationspolitik eines der kompliziertesten und umstrittensten Dossiers auf der europäischen Agenda. 

Reinhard Priebe 

 

 

 

 

 

 

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Aktuelles aus Brüssel – 30.3.2023

Reinhard Priebe

Aktuelles aus Brüssel – 30.3.2023

Ukraine

Naturgemäß beschäftigte sich der Europäische Rat auf seiner März-Tagung wiederum ausführlich mit der Ukraine. Dass ein Drittel der 10-seitigen Schlussfolgerungen diesem Thema gewidmet ist, verdeutlicht, welche zentrale Rolle die EU – neben den Mitgliedstaaten, den internationalen Partnern und der NATO – in dieser Krise spielt. Folgende Punkte sind hervorzuheben:

Der Rat betont nochmals, wie wichtig und dringend es sei, “die Bemühungen um die wirksame Durchführung der Sanktionen auf europäischer und nationaler Ebene zu verstärken”. Die Umgehung der Sanktionen in Drittländern und durch Drittländer sei zu verhindern und zu bekämpfen. Rat und Kommission müssten alle erforderlichen Durchsetzungsinstrumente stärken und gemeinsam mit den Mitgliedstaaten einen koordinierten Ansatz entwickeln. Deutlich erkennbar ist die Sorge, dass die mittlerweile in zehn Paketen beschlossenen Sanktionen nicht so wirksam sein könnten wie beabsichtigt. Die Kommission hat übrigens einen ihrer erfahrensten ehemaligen Mitarbeiter als internationalen Sonderbeauftragten für die Durchsetzung der Sanktionen berufen.

Weiterhin begrüßt der Europäische Rat die Einigung, „der Ukraine dringend Boden-Boden-Munition und Artilleriemunition sowie – falls darum ersucht wird – Flugkörper zu liefern.“ In einer gemeinsamen Anstrengung sollen innerhalb der nächsten zwölf Monate 1 Million Artilleriegeschosse bereitgestellt werden, u.a. durch gemeinsame Beschaffung und die Mobilisierung angemessener Finanzmittel. Eine derartige „Vergemeinschaftung“ der Munitionsbeschaffung auf EU-Ebene ist bemerkenswert und wäre vor der Ukraine-Aggression undenkbar gewesen.

Der Europäische Rat beklagt auch, dass durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und “den Einsatz von Nahrungsmitteln als Waffe” die weltweite Ernährungssicherheit untergraben wurde. Die ständige Verfügbarkeit und Erschwinglichkeit landwirtschaftlicher Erzeugnisse für die bedürftigsten Länder müsse gewährleistet sein. Insofern seien weltweit gemeinsame Anstrengungen nötig. Die Schwarzmeer-Getreide-Initiative der Vereinten Nationen, die “Solidaritätskorridore“ der EU und die ukrainische Initiative “Getreide aus der Ukraine“ trügen entscheidend zur Stärkung der weltweiten Ernährungssicherheit bei.

Wiederum begrüßt der Europäische Rat das Engagement und die Reformbemühungen der Ukraine und betont, wie wichtig der EU-Beitrittsprozess für das Land ist. Damit bleibt die – langfristige – Perspektive für eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine weiterhin im Blick.

Verbrennermotoren

Nach langen Verhandlungen hatten Rat und Parlament sich politisch auf das Verbot neuer Verbrennermotoren ab 2035 geeinigt. Umso mehr irritierte ein „Querschuss“ aus Deutschland unmittelbar vor der förmlichen Annahme des Gesetzestextes, mit dem eine Ausnahme für sog. e-fuels durchgesetzt werden sollte. Derartige „Blockaden“ in allerletzter Minute kommen in Brüssel zwar gelegentlich vor, gehören aber nicht zum üblichen Handlungsrepertoire der deutschen Regierung. Mit seinem politischen und wirtschaftlichen Gewicht als größter Mitgliedstaat spielt Deutschland traditionell eine wichtige, europaweit geschätzte Vermittlerrolle, vor allem in Verhandlungssituationen, „wo gar nichts mehr geht“. Insofern hat die Bundesregierung mit dem plötzlichen Infragestellen eines mühsam erreichten Kompromisses viel politisches Porzellan zerschlagen – ganz abgesehen von einer neuerlichen Verstimmung mit Frankreich. Darüber kann auch die Tatsache nicht hinwegtäuschen, dass sich einige andere Mitgliedstaaten der deutschen Linie noch anschlossen.

Jedenfalls haben sich Rat und Parlament nicht dazu bereitgefunden, den ausgehandelten Rechtstext wegen der deutschen Forderung noch abzuändern. Ein schließlich gefundener „gesichtswahrender“ Kompromiss (FAZ: „Etappensieg für Wissing“), wonach Fahrzeuge mit Verbrennermotor, die ausschließlich klimaneutrale Kraftstoffe tanken, auch nach 2035 neu zugelassen werden können, muss noch in den nächsten Monaten in einem gesonderten Rechtsakt konkretisiert werden und dabei seine Tragfähigkeit unter Beweis stellen. Dass in Brüsseler Kreisen der auf Berliner Koalitionsstreitigkeiten zurückzuführende „messy approach“ der Bundesregierung mit den bisweilen chaotischen Verhandlungen in Brüssel selbst verglichen wurde (“much like a small EU”), gibt jedenfalls zu denken.

Fischerei- und Meerespolitik

Obwohl die EU im Bereich der Fischerei- und Meerespolitik weitreichende Kompetenzen hat, findet diese Politik neben den „großen Themen“ recht wenig Beachtung. Bemerkenswert sind insofern vier Mitteilungen, mit denen die Kommission im Februar neue Impulse zur Weiterentwicklung der Gemeinsamen Fischerei- und Meerespolitik angeregt hat. Die „Mitteilung zur Energiewende im Fischerei- und Aquakultursektor“ zeigt Wege zur Verringerung der derzeit untragbaren ökologischen und ökonomischen Abhängigkeit des Fischereisektors von fossilen Brennstoffen auf. Ein „Aktionsplan zum Schutz und zur Wiederherstellung von Meeresökosystemen“ soll durch eine nachhaltige und widerstandsfähige Fischerei den Beitrag der Gemeinsamen Fischereipolitik zu den Umweltzielen der EU verstärken und die negativen Auswirkungen der Fischerei auf die Meeresökosysteme verringern. In der „Mitteilung über die Gemeinsame Fischereipolitik heute und morgen“ hebt die Kommission deren drei wichtigste Grundsätze hervor, nämlich (1) ökologische und wirtschaftliche Nachhaltigkeit, (2) wirksame regionale Zusammenarbeit und (3) wissenschaftsbasierte Entscheidungsfindung. Sie schlägt insofern einen „Pakt für Fischerei und Ozeane“ vor, der eine neue Phase des Dialogs und der Zusammenarbeit zwischen der Kommission und allen Akteuren des Fischereisektors einleiten soll. Schließlich habe die gemeinsame Marktorganisation für Erzeugnisse der Fischerei und der Aquakultur von 2013 den Übergang von einer auf Interventionen basierten Marktpolitik zu einer dynamischen, marktorientierten, von den Interessenträgern beeinflussten Politik ermöglicht.
Die Kommission schlägt in diesen vier Mitteilungen ein sehr ambitioniertes Handlungsprogramm für die nächsten Jahre vor, das die EU, ihre Mitgliedstaaten, Interessenträger sowie internationale Partner gleichermaßen in die Verantwortung nimmt. Ob das alles ausreichen wird, um der aus bedrohten Fischbeständen und weitreichenden Umwelt- und Klimabelastungen der Meere resultierenden gewaltigen Herausforderungen Herr zu werden, bleibt abzuwarten.
In diesem Zusammenhang hat die Aufforderung der Kommission an die Mitgliedstaaten, die Verwendung von Grundschleppnetzen in geschützten Meeresgebieten bis 2030 zu verbieten, in der betroffenen Fischereiwirtschaft große Beunruhigung ausgelöst. Sie könnte in der Tat das Ende der norddeutschen Krabbenfischerei bedeuten. Von „irrem Regel-Wahn der EU-Kommission“ (so die Bild-Zeitung am 17.3.2023 in einem Artikel über „EU-Angriff auf unsere Krabbenbrötchen“) kann aber keine Rede sein. Es geht vielmehr um den gerade im Fischereisektor besonders schwierigen Ausgleich zwischen Wirtschafts- und Umweltbelangen.

Viele weitere Themen…

… , die die europäischen Akteure derzeit in Atem halten, wären berichtenswert, etwa die intensiven Diskussionen zwischen der EU und den USA über die in dem „Inflation Reduction Act“ vorgesehenen amerikanischen Subventionen, die die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft gefährden könnten, über mögliche Auswirkungen der schweizerischen Bankenkrise auf die europäische Wirtschaft, über die hoffentlich tragfähige Nachbesserung des sog. Nordirland-Protokolls als Teil der Brexit-Austrittsmodalitäten, über die Umsetzung des unter maßgeblicher Beteiligung des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Borell, zustande gekommenen Abkommens zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Serbien und Kosovo und natürlich über die Dauerkrise der illegalen Migration in die EU.

 

 

 

 

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Aktuelles aus Brüssel – 2.11.2022

Aktuelles aus Brüssel – 2.11.2022

Erweiterungspaket 2022

Am 12. Oktober 2022 hat die Europäische Kommission ihre diesjährige Bewertung der Reformen in den Westbalkanländern und in der Türkei vorgelegt.  In ihrer „Mitteilung über die Erweiterungspolitik der EU“ und den angefügten Länderberichten zeigt sie auf, welche Fortschritte die Beitrittsaspiranten auf ihrem Weg zur EU im letzten Jahr erzielt haben und wo es Defizite gibt. Empfehlungen für weitere Reformen sollen ihnen helfen, dem Ziel der EU-Mitgliedschaft näherzukommen.

Die Mitteilung verweist eingangs auf die von den Führungsspitzen der EU und des Westbalkans im Juni 2022 neuerlich bekräftigte EU-Mitgliedschaftsperspektive der Region. Zwar sei auch die Türkei Beitrittskandidat, die Beitrittsverhandlungen stünden jedoch seit 2018 still. Das Land habe sich mit weiteren Rückschritten in wichtigen Bereichen sowie dem Ausbleiben von Reformen „noch weiter von der EU entfernt“.

Auf über 900 Seiten (die einzelnen Länderberichte umfassen jeweils über 100, die allgemeine Mitteilung 90 Seiten) legt die Kommission dar, wo die Länder hinsichtlich der Grundsätze und der Regeln der EU in den einzelnen Politikfeldern stehen und welche Schritte sie unternehmen müssen, um die Beitrittsvoraussetzungen zu erfüllen. Wie immer ist das Bild gemischt: Einigen positiven Entwicklungen – wie etwa die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien – stehen Stillstand, bisweilen auch Rückschritte in wichtigen Bereichen gegenüber.

Die durch den russischen Angriff auf die Ukraine gewandelte geopolitische Lage in Europa hebt die Kommission besonders hervor. Der Angriff verdeutliche mehr denn je, “dass die Aussicht auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union starken Rückhalt bietet, nicht nur was Wohlstand, sondern auch was Frieden und Sicherheit angeht.“ Die geopolitischen Herausforderungen führten zu einer Annäherung zwischen der EU und dem Westbalkan und erforderten eine “uneingeschränkte gegenseitige Solidarität.” Auch haben sich mit Ausnahme Serbiens alle Westbalkanstaaten an den EU-Sanktionen gegen Russland beteiligt. Die Kommission fordert Serbien auf, „seine Bemühungen um eine schrittweise Angleichung an die außenpolitischen Standpunkte der EU, einschließlich der … restriktiven Maßnahmen, (zu verstärken).“

Der Vorschlag der Kommission, Bosnien und Herzegowina (BiH) den Kandidatenstatus zu gewähren, hat einiges Stirnrunzeln ausgelöst; ob die Mitgliedsstaaten ihm folgen werden, bleibt abzuwarten. Der von der Kommission in ihrem Bericht hervorgehobene Mangel an Fortschritten widerspricht eigentlich einer „Aufwertung“ dieses Landes zum Beitrittskandidaten. Andererseits hätte die EU es sich nach jahrelangen Anstrengungen kaum leisten können, BiH den Kandidatenstatus zu verwehren, zumal nachdem der Ukraine und Moldau dieser Status sofort nach ihren Beitrittsanträgen Anfang des Jahres zugestanden worden war. Der Kandidatenstatus mag für BiH und die Region ein wichtiges politisches Signal sein, unmittelbare Folgen hat er aber nicht. Ohne die von der EU eingeforderten Reformen liegt für BiH die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen als nächster Schritt im Beitrittsprozess in weiter Ferne.

Kosovo bliebe damit das einzige Westbalkanland (und neben Georgien das einzige Land im Erweiterungsprozess), das den Kandidatenstatus noch nicht erreicht hat. Nach wie vor kommt die Normalisierung zwischen Serbien und Kosovo, eines der wichtigsten außenpolitischen Anliegen der EU im Westbalkan, nicht recht voran. Die Kommission erwartet von beiden Ländern, „dass (sie) sich … konstruktiver an den Verhandlungen über das rechtsverbindliche Normalisierungsabkommen beteilig(en) und Kompromissbereitschaft zeig(en), damit rasch konkrete Fortschritte erzielt werden.“ Nach wie vor setzt allerdings der Umstand, dass fünf EU-Mitgliedstaaten das Land immer noch nicht als Staat anerkennen, dessen weiteren Annäherung an die EU enge Grenzen.

Wie üblich konzentrieren sich die Länderberichte auf die „wesentlichen Elemente des Beitrittsprozesses“, nämlich auf funktionsfähige demokratische Institutionen, Justiz und Grundrechte, Recht, Freiheit und Sicherheit, die Reform der öffentlichen Verwaltung und die Zivilgesellschaft. In ihrer Mitteilung beschreibt die Kommission auch eine Vielzahl von Initiativen, die die Heranführung der Länder an die EU beschleunigen sollen. Sie hebt die Bedeutung des „Wirtschafts- und Investitionsplans für den Westbalkan“ sowie die inzwischen gut funktionierende regionale Zusammenarbeit in vielen Bereichen (insbes. Verkehr, Energie, Umwelt- und Klimaschutz) hervor. So zeichnen sich ein immer enger verflochtener Wirtschaftsraum in der Region sowie ihre verstärkte wirtschaftliche Anbindung an den EU-Binnenmarkt deutlich ab.

Mit ihrer detaillierten Bewertung trägt die Kommission zur Berechenbarkeit und damit auch zur Glaubwürdigkeit des Erweiterungsprozesses – sowohl innerhalb der EU wie in den Beitrittsländern – bei. Die neue Lage in Europa und die damit verbundene Annäherung an die EU könnten für den Westbalkan eine Chance sein, im Erweiterungsprozess nach vielen Verzögerungen endlich schneller voranzukommen. Allerdings dürfte die in der Region bisweilen gehegte Hoffnung kaum realistisch sein, die Beitrittsanträge der Ukraine und Moldaus und deren umgehende Ernennung zu Beitrittskandidaten würden ohne Weiteres eine Beschleunigung des Beitrittsprozesses auf dem Balkan nach sich ziehen. Nichts deutet darauf hin, dass die EU ihre strengen Beitrittsanforderungen abschwächen könnte.

 

Energiekrise – europäische Maßnahmen

Die im Zusammenhang mit dem russischen Angriff auf die Ukraine ausgelöste Energie- und Wirtschaftskrise stellt alle Mitgliedstaaten vor enorme Herausforderungen. Die Notwendigkeit gemeinsamen Handels auf europäischer Ebene ist einerseits offensichtlich, andererseits ist die Versuchung nationaler Politiker, zumal in den größeren Mitgliedstaaten, groß, für ihr Land allein Maßnahmen zu ergreifen. So hat die Ankündigung des 200 Mrd. €-Pakets für Deutschland, offenbar ohne vorherige Konsultation unter den europäischen Partnern und insbesondere zwischen Frankreich und Deutschland zu deutlicher Verstimmung geführt.

Der Europäische Rat hat am 20.10.2022 die Lage eingehend diskutiert, ohne aber zu abschließenden Entscheidungen zu kommen. Angesichts der Instrumentalisierung von Energie als Waffe durch Russland werde die Europäische Union geeint bleiben, um ihre Bürgerinnen und Bürger sowie ihre Unternehmen zu schützen. Sie werde vordringlich die notwendigen Maßnahmen ergreifen. Die Anstrengungen zur Verringerung der Nachfrage, zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit, zur Vermeidung einer Rationierung und zur Senkung der Energiepreise für Haushalte und Unternehmen in der gesamten Union müssten beschleunigt und intensiviert werden. Dabei sei die Integrität des Binnenmarktes zu wahren.

Der Europäische Rat beauftragte den Rat und die Kommission, dringend konkrete Beschlüsse zu fassen, und zwar insbesondere über (1) die freiwillige gemeinsame Beschaffung von Gas für eine Menge in Höhe von 15 % des Speicherbedarfs und die Beschleunigung der Verhandlungen mit zuverlässigen Partnern, (2) einen neuen zusätzlichen Richtwert, der die Bedingungen auf dem Gasmarkt genauer widerspiegelt, bis Anfang 2023, (3) einen befristeten dynamischen Preiskorridor für Erdgasgeschäfte, „um Phasen exzessiver Gaspreise unmittelbar zu begrenzen“, (4) einen befristeten EU-Rahmen zur Begrenzung des Preises von zur Stromerzeugung genutztem Gas, (5) eine Verbesserung der Funktionsweise der Energiemärkte, „um die Markttransparenz zu erhöhen, Liquiditätsstress abzubauen und Faktoren zu beseitigen, die die Gaspreisschwankungen verstärken, während der Erhalt der Finanzstabilität gewährleistet wird“, (6) die rasche Vereinfachung von Genehmigungsverfahren, um den Ausbau der erneuerbaren Energien und der Energienetze zu beschleunigen, (7) Energiesolidaritätsmaßnahmen bei Störungen der Gasversorgung auf nationaler, regionaler oder Unionsebene sowie  (8) verstärkte Energiesparanstrengungen.

Der Europäische Rat betonte, es sei „unmittelbare Priorität“, Haushalte und Unternehmen, insbesondere die Schwächsten in unseren Gesellschaften, zu schützen. Ebenso wichtig sei es, die globale Wettbewerbsfähigkeit der Union aufrechtzuerhalten. Der Europäische Rat unterstrich auch die Bedeutung einer engen Abstimmung und gegebenenfalls gemeinsamer Lösungen auf europäischer Ebene und setzt sich dafür ein, politische Ziele in geeinter Weise zu verwirklichen.

In einer ersten Runde haben die Energieminister der EU am 25.10.2022 über einzelne Maßnahmen beraten. Viele Fragen bleiben noch offen; zu unterschiedlich sind die Energieversorgungslage in den einzelnen Mitgliedstaaten und die daraus resultierenden nationalen Interessenlagen. So ist etwa ein Konsens über einen (strikten) Gaspreisdeckel noch nicht in Sicht.

Wie schon die Corona-Pandemie stellt auch die jetzige Energie- und Wirtschaftskrise die europäische Solidarität auf den Prüfstein. Divergenzen zwischen den europäischen Partnern kämen Russland nur gelegen. Nationale Sonderwege dürften aber kaum zu besseren Lösungen führen als gemeinsames europäisches Handeln.

 

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Aktuelles aus Brüssel – 17.2.2022




Gerichtshof billigt Rechtsstaatskonditionalität

Die „Rechtsstaatskonditionalität“ war 2020 bei den Verhandlungen um den mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 der EU ein besonders umstrittener Punkt. Danach kann der Ministerrat auf Vorschlag der Kommission bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat Schutzmaßnahmen ergreifen, insbesondere auch die Aussetzung von Zahlungen aus dem EU-Haushalt (s. dazu Aktuelles aus Brüssel v. 20.12.2020). Wegen dieses „Konditionalitätsmechanismus‘“ hatten Ungarn und Polen den Europäischen Gerichtshof (EuGH) angerufen. In einem bahnbrechenden Urteil hat der EuGH am 16.2.2022 ihre Klagen abgewiesen und damit die Rechtmäßigkeit der Konditionalität bestätigt.

Der EuGH hält den EU-Gesetzgeber für zuständig, die Rechtsstaatskonditionalität zu regeln. Erklärtes Ziel der Regelung sei es, den Haushalt der EU vor Beeinträchtigungen zu schützen, die sich aus Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit ergeben. Solche Verstöße müssten die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen hinreichend unmittelbar beeinträchtigen oder ernsthaft zu beeinträchtigen drohen. Das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten beruhe darauf, dass diese die gemeinsamen Werte achten, auf die sich die Union gründe. Zu ihnen zählten Rechtsstaatlichkeit und Solidarität. Die Achtung der gemeinsamen Werte sei somit eine Voraussetzung für den Genuss all jener Rechte, die sich aus der Anwendung der Verträge auf einen Mitgliedstaat ergäben. Deshalb müsse die Union auch in der Lage sein, diese Werte im Rahmen der ihr übertragenen Aufgaben zu verteidigen. Die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union und ihre finanziellen Interessen könnten durch Verstöße eines Mitgliedstaates gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit schwer beeinträchtigt werden.

Der EuGH sieht in der Rechtsstaatskonditionalität keine Umgehung des in Art. 7 des EU-Vertrages vorgesehenen Sanktionsmechanismus‘. Danach kann der Rat im Falle schwerwiegender und anhaltender Verletzungen der Grundwerte der EU durch einen Mitgliedstaat gegen diesen Sanktionen verhängen. Ziel dieser Bestimmung sei es, die Verletzungen abzustellen. Die Rechtsstaatskonditionalität diene hingegen dem Schutz des Haushalts der Union.

Den Einwand, der Begriff der Rechtsstaatlichkeit sei zu unklar, weist der EuGH zurück und erläutert detailliert, was darunter zu verstehen ist. Schließlich weist der EuGH auf strenge Verfahrenserfordernisse bei der Anwendung der Rechtsstaatskonditionalität hin, etwa die Anhörung des betroffenen Mitgliedstaates.

In den Verhandlungen um den mehrjährigen Finanzrahmen 2020 hatten sich die Mitgliedstaaten und die Kommission darauf verständigt, vor einer Anwendung des Rechtsstaatskonditionalität zunächst die Entscheidung des EuGH über deren Rechtmäßigkeit in den von Ungarn und Polen angekündigten Verfahren abzuwarten. Für dieses Zuwarten wurde die Kommission vom Europäischen Parlament heftig kritisiert. Ein laufendes Gerichtsverfahren sei kein Grund, geltendes Recht nicht anzuwenden. Schließlich hat das Parlament im November 2021 sogar beim EuGH eine Untätigkeitsklage gegen die Kommission erhoben. Nachdem nunmehr feststeht, dass die Rechtsstaatskonditionalität rechtmäßig ist, wird der Druck auf die Kommission groß sein, sie nunmehr unverzüglich anzuwenden. In einer ersten Reaktion hat die Kommission allerdings erst einmal eine sorgfältige Prüfung des Urteils sowie die Ausarbeitung von Leitlinien zur Anwendung der Rechtsstaatskonditionalität angekündigt.

Die gegenwärtige Debatte hat sich auf Polen und Ungarn zugespitzt. Beide Länder werden abwägen müssen, ob sie das Risiko erheblicher Kürzungen von Zahlungen aus dem EU-Haushalt eingehen wollen. Im Falle Ungarns gibt allerdings Premierminister Orbáns Äußerung – kürzlich in einer Wahlkampfrede -, der Westen befinde sich in einem „rechtsstaatlichen Dschihad“ gegen Ungarn, wenig Hoffnung auf ein Einlenken. Selbstverständlich könnten Zahlungskürzungen aufgrund der Rechtsstaatskonditionalität auch andere Mitgliedstaaten betreffen.

Ganz abgesehen von der Rechtsstaatskonditionalität hatte der EuGH letzes Jahr schon in zwei Verfahren gegen Polen (das eine betraf Verstöße gegen EU-Regeln im Zusammenhang mit einem Kraftwerk, das andere die polnische Justizreform) von seiner Befugnis Gebrauch gemacht, bei Nichtumsetzung seiner Entscheidungen ein Zwangsgeld festzulegen. Es beträgt in dem einen Verfahren 500 000 € und in dem anderen 1 Mio € – pro Tag wohlgemerkt. Sofern sich Polen trotz mehrfacher Aufforderung und Fristsetzung weigert, die Zwangsgelder zu zahlen, wird die Kommission das Zwangsgeld bei anstehenden Auszahlungen aus den EU-Fonds gegenrechnen.


Taxonomie

Bisweilen macht die Brüsseler Begriffswelt den interessierten Zeitungsleser ratlos. Ein von der Kommission am 31.12.2021 vorgelegter Vorschlag zur „Taxonomie“ hat heftige Debatten ausgelöst. Aber was, um Himmels willen, ist Taxonomie?

Eine Presseerklärung der Kommission soll Licht ins Dunkel bringen: „Durch die EU-Taxonomie sollen private Investitionen mobilisiert und in Tätigkeiten gelenkt werden, die notwendig sind, um in den nächsten 30 Jahren Klimaneutralität zu erreichen.“ Die EU-Taxonomie sei „ein solides, wissenschaftsbasiertes Transparenzinstrument für Unternehmen und Investoren. Anleger könnten künftig bei Investitionen in Projekte und Wirtschaftstätigkeiten, die sich deutlich positiv auf Klima und Umwelt auswirkten, von der gleichen Grundlage ausgehen. Die EU-Taxonomie ist also ein Klassifizierungsinstrument, bei dem es darum geht, bestimmte Aktivitäten von Unternehmen einzuordnen und damit festzustellen, ob diese Unternehmen einen „grünen“ Beitrag leisten oder nicht. Anhand dieses Leitfadens sollen Investoren einschätzen können, ob ein Unternehmen, in das sie investieren wollen, nachhaltig arbeitet. Es geht somit – vereinfacht gesagt – um die Einordnung von Investitionen als klimaneutral.

In ihrem Vorschlag weist die Kommission darauf hin, dass der derzeitige Energiemix in Europa deutlich von einem Mitgliedstaat zum anderen variiert. Einige Teile Europas setzten nach wie vor stark auf die sehr CO2-intensive Kohle. Die Taxonomie liste Energietätigkeiten auf, die es den Mitgliedstaaten ermöglichten, sich von ihren sehr unterschiedlichen Ausgangspositionen aus in Richtung Klimaneutralität zu bewegen. Stein des Anstoßes war nun, dass die Kommission die Auffassung vertritt, „dass Erdgas und Kernenergie eine Rolle dabei zukommt, den Übergang zu einer überwiegend auf erneuerbaren Energien basierenden Zukunft zu erleichtern.“ Ein typischer (fauler?) Kompromiss also, der in Deutschland wegen der Atomenergie und anderswo wegen des Erdgases irritiert?
In der Debatte wird allerdings bisweilen übersehen, dass die Kommission ihre Einordnung an Bedingungen knüpft: Kernkraftwerke sollen als klimafreundlich gelten, wenn eine Baugenehmigung bis 2045 vorliegt und es im Land einen Plan und finanzielle Mittel für die Atommüllentsorgung gibt. Mit Blick auf Gaskraftwerke gelten Investitionen in neue Gaskraftwerke bis 2030 als nachhaltig, wenn sie unter anderem schmutzigere Kraftwerke ersetzen und bis 2035 mit klimafreundlicheren Gasen betrieben werden.

Angesichts des für solche Entscheidungen vorgesehenen Verfahrens ist nicht damit zu rechnen, dass die von der Kommission vorgeschlagene Regelung noch scheitert.


Konferenz zur Zukunft Europas – Einstimmigkeitsprinzip

Die Konferenz zur Zukunft Europas ist ein Forum, in dem Bürgerinnen und Bürger, Vertreterinnen und Vertreter der EU-Institutionen, der Mitgliedstaaten und der Zivilgesellschaft über gemeinsame europäische Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft beraten. Sie soll neue Antworten für die Zukunft der europäischen Demokratie formulieren und die nächsten Schritte der europäischen Integration vorzeichnen.

Im Rahmen dieser Konferenz wird auch über die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips bei Entscheidungen der EU diskutiert. Sicherlich ein wichtiges Thema – wie viele andere auch. Einstimmigkeit bei EU-Entscheidungen ist zwar nicht mehr die Regel, sondern die Ausnahme. Sie gilt aber noch bei vielen wichtigen Entscheidungen.
In diesem Zusammenhang bitten der Bundesverband der Europa-Union und die Jungen Europäischen Föderalisten, Pulse of Europe sowie Alliance for Europe, ihre Initiative #NoVeto zu unterstützen (Frist 20.2.):








#NoVeto: Stimmt für die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzip im Rat der EU!







Die Konferenz ist die beste Gelegenheit seit 20 Jahren, um für föderalistische Reformen der EU zu werben. Wir bitten Dich, einen wichtigen Vorschlag auf der Onlineplattform der Konferenz zu unterstützen, die am 20. Februar geschlossen wird. Wir, das ist ein.
Gemeinsam fordern wir die Europäische Union auf, das Einstimmigkeitsprinzip im Rat der EU abzuschaffen. Mit diesem Blockadeprivileg haben einzelne nationale Regierungen allein in den letzten drei Jahren mindestens 12 Entscheidungen zum Wohle aller Europäerinnen und Europäer verhindert.
Wir haben nur noch wenige Tage bis die Onlineplattform schließt. Deshalb melde Dich bitte jetzt auf der Plattform an und stimme für unseren Reformvorschlag. Wir brauchen nur 1.000 Stimmen, um die meistunterstützte Idee zu werden – und damit einen prominenten Platz im Abschlussbericht der Konferenz zu sichern. Mehr als 200 Personen haben den Vorschlag bereits unterstützt. Danke, dass Du uns hilfst.







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Aktuelles aus Brüssel (21.12.2020)

Europäischer Rat: Einigung über den EU-Haushalt und Vorgaben zur Bewältigung der Pandemie

Auf seiner Dezember-Tagung (10./11.12.2020) hat der Europäische Rat eine ganze Reihe schwieriger, für die Zukunft der Europäischen Union wichtiger Themen bewältigt. Insbesondere einigte er sich über den EU-Haushalt für die nächsten sieben Jahre (mehrjähriger Finanzrahmen) und machte konkrete Vorgaben für den europäischen Beitrag zur Bewältigung der Covid-19 Pandemie. Es war übrigens erst die zweite „physische“ Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs seit dem Ausbruch der Pandemie.

1. Durch den mehrjährigen Finanzrahmen (2021-2027) und den zur Bewältigung der wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid19-Pandemie neu geschaffenen Wiederaufbaufonds wird die Europäische Union für die nächsten sieben Jahre mit den finanziellen Ressourcen ausgestattet, um sich insbesondere dem Klimawandel und dem digitalen Wandel zu stellen und um vor allem auch die (wirtschaftlichen) Folgen der Pandemie zu überwinden. Der Finanzrahmen beläuft sich auf 1,8 Billionen €, wovon 750 Millionen € dem Wiederaufbaufonds (von 2021-2023) vorbehalten sind. Mit der Finanzierung fast der Hälfte dieses Fonds (360 Mio.€) aus Krediten (anstatt nur aus eigenen Einnahmen und aus Beiträgen der Mitgliedstaaten) hat die EU dabei Neuland betreten.

Viel Wirbel hatte in den Verhandlungen die sog. „Rechtsstaatkonditionalität“ ausgelöst.
Rechtsstaatlichkeit ist einer der Werte, auf die sich die Union gründet. Ihre Beachtung ist auch Bedingung für einen Beitritt zur Union. In den letzten Jahren sind in einigen Mitgliedstaaten allerdings schwerwiegende Rechtsstaatsmängel aufgetreten, etwa hinsichtlich der Unabhängigkeit der Justiz, der Freiheit von Wissenschaft und Forschung oder der Reduzierung der Korruption. Besondere Beachtung hat dabei die Lage in Polen und in Ungarn gefunden; schwerwiegende Rechtsstaatsdefizite gibt es aber auch in anderen Mitgliedstaaten. Um solche Defizite zu beheben, hatte die Kommission im Rahmen des Haushaltspakets vorgeschlagen, die Zahlung von EU-Geldern an die einzelnen Mitgliedstaaten an die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit zu knüpfen. Andere schon bestehende Instrumente - etwa Vertragsverletzungsverfahren gegen die betreffenden Länder oder die Einleitung des im Vertrag bei nachhaltigen Rechtsstaatsmängeln vorgesehenen Sanktionsverfahrens - haben sich bislang als nicht sehr wirksam erwiesen. Vertragsverletzungsverfahren greifen nur bei Verletzungen von spezifischen EU-Regelungen und die für das Sanktionsverfahren erforderliche Einstimmigkeit im Europäischen Rat ist schwer zu erreichen.

Mit ihrer grundsätzlichen Ablehnung einer solchen „Konditionalität“ haben sich Polen und Ungarn nicht durchsetzen können. Schon im Juli einigte sich der Europäische Rat auf die Bedingungen und das Verfahren zur Anwendung der Rechtsstaatskonditionaltät, musste diese aber auf Drängen des Europäische Parlaments später „nachbessern“. Das wiederum veranlasste Polen und Ungarn, eine Blockierung des gesamten Haushaltspakets durch ihr Veto anzudrohen. Diese Drohung war ernst zu nehmen, weil die Entscheidung über den mehrjährigen Finanzrahmen Einstimmigkeit im Rat erfordert. Um ein solches Veto abzuwenden, hat sich der Europäische Rat schließlich im Dezember auf eine Reihe von politischen Erklärungen zur Anwendung der Rechtsstaatskonditionalität verständigt.

An diesen (insgesamt über drei Seiten langen) Erklärungen ist viel Kritik geübt worden; man sei Polen und Ungarn zu weit entgegengekommen und habe das neue Instrument unnötig abgeschwächt. Allerdings ändern diese Erklärungen nichts an dem eigentlichen, allein verbindlichen Verordnungstext. Sie ermöglichten es aber Polen und Ungarn, ihr Gesicht zu wahren und zuhause zu verkünden, sie hätten die Schlacht gewonnen - völlig zu Unrecht übrigens. Trotz aller, nicht ganz unberechtigter Einwände, die neue Konditionalität sei zu schwach ausgestaltet, ist es dennoch ein wesentlicher Fortschritt, dass die Beachtung des Rechtstaatprinzip als Bedingung für die Zahlung von EU-Geldern nunmehr gesetzlich festgelegt ist.

Das letzte Wort ist in dieser Angelegenheit aber noch nicht gesprochen. Polen und Ungarn wollen den Europäischen Gerichtshof anrufen, um die Rechtsstaatskonditionalität auf ihre Vereinbarkeit mit den europäischen Verträgen überprüfen zu lassen.

Mit der rechtzeitigen Verabschiedung der Beschlüsse zum mehrjährigen Finanzrahmen endet eine durch und durch erfolgreiche Ratspräsidentschaft Deutschlands. Der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, geht denn auch in seiner Erklärung zum Abschluss des Europäischen Rates weit über diplomatische Höflichkeit hinaus: „Zuallererst möchte ich natürlich Bundeskanzlerin Angela Merkel allgemein für die letzten sechs Monate, insbesondere aber für diese so wichtige Angelegenheit würdigen; sie hat die Ärmel hochgekrempelt und sich mit Willensstärke, Kreativität und unermüdlichem Engagement für Europa eingesetzt, um dank einer umfassenden Vorbereitung vor und während dieser Tagung des Europäischen Rates dafür zu sorgen, dass diese positive Überraschung zustande kommt, dieser Schritt voran, mit dem sichergestellt wird, Investieren, gemeinsam Reformen durchführen, gemeinsam die gleichen Ziele verfolgen und dabei dafür sorgen, dass unsere Werte … berücksichtigt werden, denn sie bilden den Kern des europäischen Projekts.“

Wie so häufig bei grundlegenden Entscheidungen der EU ist nicht immer leicht zu verstehen, wer in der EU was macht. Eigentlich legt der Europäische Rat (also die Staats- und Regierungschefs unter Vorsitz ihres auf zweieinhalb Jahre gewählten Präsidenten) lediglich „allgemeine politische Zielvorstellungen und Prioritäten“ fest; er wird nicht selbst gesetzgeberisch tätig. So sind auch die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 10/11.12.2020 zu lesen. Die Gesetzgebung auf dieser Grundlage obliegt dann auf Vorschlag der Kommission dem mit den Fachministern der Mitgliedstaaten besetzten Rat und dem Europäischen Parlament. Dementsprechend wurden nach dem Europäischen Rat Mitte Dezember die detaillierten Verordnungen zur Umsetzung des mehrjährigen Finanzrahmens beschlossen – übrigens in bemerkenswertem Eiltempo, um deren Inkrafttreten rechtzeitig zum Jahresanfang 2021 sicherzustellen. Anders als im Europäischen Rat, der einen ständigen Präsidenten hat, rotiert im (Minister-)Rat die Präsidentschaft alle sechs Monate zwischen den Mitgliedstaaten (derzeit noch Deutschland).

2. Eingehend befasste sich der Europäische Rat auch mit der Covid-19 Pandemie. In der Tat wird die Bewältigung dieser Pandemie ein Testfall für die „europäische Solidarität“ sein.

Den Ankauf der Impfstoffe koordiniert die Kommission. Das ermöglicht eine ausgewogene Verteilung des Impfstoffes europaweit und vermeidet insbesondere, dass kleinere Mitgliedstaaten bei den Ankäufen „unter die Räder kommen“. Es ist sicherlich auch zu begrüßen, dass die EU-Mitgliedstaaten von einzelnen nationalen Notfallzulassungen der Impfstoffe zugunsten einer europaweiten Zulassung durch die Europäische Arzneimittelagentur Abstand genommen haben, selbst um den Preis geringfügiger Verzögerungen.

Auf seiner Dezember-Tagung betonte der Europäische Rat neuerlich die Bedeutung der europäischen Ebene bei der Bewältigung der Krise. Er hob die Notwendigkeit einer intensiven Koordinierung der Anstrengungen auf EU-Ebene hervor. Der Austausch von Erfahrungen und Zukunftsplänen müsse verbessert werden. Die Kommission soll einen gemeinsamen Rahmen für Antigen-Schnelltests und die gegenseitige Anerkennung von Testergebnissen erarbeiten. Damit Impfstoffe den Bürgern zeitnah und in koordinierter Weise zur Verfügung gestellt werden könnten, sei die Entwicklung nationaler Impfstrategien erforderlich. Der Europäische Rat betonte zudem, dass die EU zur internationalen Reaktion auf die Pandemie beitragen müsse. Die Impfung „sollte als weltweites öffentliches Gut behandelt werden“.

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Aktuelles aus Brüssel – 13.11.2020

 

  1. Die EU als Gesundheitsunion?

Was macht eigentlich die Europäische Union? Das haben sich im Frühjahr nach Ausbruch der Covid-19 Pandemie viele gefragt. Scheinbar ließ es die EU geschehen, dass jeder Mitgliedstaat für sich agierte, etwa den Handel mit Medikamenten und Hilfsmitteln einschränkte, die Freizügigkeit innerhalb der Union durch Grenzschließungen und Einreiseverbote nachhaltig beeinträchtigte und Notfallpläne mehr oder weniger unkoordiniert verabschiedete. Abgesehen von vereinzelten Hilfsaktionen schien die Solidarität – einer der Grundpfeiler der EU – auf der Strecke zu bleiben.

Der Eindruck einer weitgehenden Untätigkeit der EU in der Anfangsphase der Pandemie täuscht allerdings. So verabschiedete die Kommission bereits am 16.3.2020 „Leitlinien für Grenzmanagementmaßnahmen zum Schutz der Gesundheit und zur Sicherstellung der von Waren und wesentlichen Dienstleistungen“. Neben dem Grenzmanagement richtete die Kommission in den folgenden Monaten ihr Augenmerk etwa auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise, die verstärkte Förderung der Forschung, die Sicherstellung der Mobilität innerhalb der Union und nicht zuletzt auf verschiedene gesundheitspolitische Aspekte. In diesem Zusammenhang brachte sie beispielsweise am 17.6.2020 eine europäische Impfstoffstrategie auf den Weg.

Allerdings: Bei gesundheitspolitischen Maßnahmen ist eine gewisse Zurückhaltung Brüssels nicht zu verkennen. Bekanntlich kann die EU nur in Bereichen handeln, für die die EU-Verträge eine europäische Zuständigkeit ausdrücklich vorsehen. Mit einer EU-Kompetenz in Gesundheitsfragen ist es aber nicht weit her. Ein einziger Artikel im Vertrag über die Arbeitsweise der Union (Art. 168) beschäftigt sich mit dem „Gesundheitswesen“. Bei näherem Hinsehen zählt dieser relativ lange Artikel weniger auf, welche gesundheitspolitischen Aufgaben der EU zufallen, als vielmehr, welche Aufgaben den Mitgliedstaaten vorbehalten bleiben. Eine europäische Gesundheitspolitik besteht also nur in Ansätzen. Sie geht von der alleinigen Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Festlegung der Gesundheitspolitik, die Verwaltung des Gesundheitswesens sowie für die medizinische Versorgung, einschließlich der Finanzierung der Leistungen und der Leistungsumfang aus. Die Rolle der EU ist im Wesentlichen darauf beschränkt, die Politik der Mitgliedstaaten zu ergänzen, ihre Zusammenarbeit zu fördern und ihre Tätigkeit – falls erforderlich – zu unterstützen.

Dennoch ist letzter Zeit einiges in Bewegung geraten: Erst vor wenigen Tagen machte der Abschluss von Verträgen zum Ankauf beträchtlicher Mengen von Impfstoff Schlagzeilen. Kommissionspräsidentin von der Leyen hat kürzlich die Schaffung einer „Europäischen Gesundheitsunion“ angeregt, und am 11.11.2020 hat die Kommission hierzu konkrete Vorschläge vorgelegt. Eine neue „Verordnung zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren“ soll eine bessere Vorsorge sicherstellen. Hierzu regt die Kommission einen EU-Vorsorgeplan für Gesundheitskrisen und Pandemien mit einschlägigen Empfehlungen an, auf dessen Grundlage die Mitgliedstaaten dann nationale Pläne ausarbeiten sollen. Die Erstellung nationaler Pläne soll vom Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten und von anderen EU-Agenturen unterstützt werden. Auf EU-Ebene soll ein gestärktes, integriertes Überwachungssystem geschaffen werden, in dem künstliche Intelligenz und andere fortschrittliche Technologien zum Einsatz kommen. Zur Verbesserung der  Datenübermittlung sollen die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, ihre Berichterstattung über Indikatoren der Gesundheitssysteme zu erweitern (z.B. freie Krankenhausbetten, spezielle Behandlungs- und Intensivpflegekapazitäten, Anzahl der medizinischen Fachkräfte usw.). Die Ausrufung eines EU-Notstands würde eine engere Koordinierung auslösen und die Entwicklung, Bevorratung und Beschaffung von krisenrelevanten Produkten gestatten.

Wie weit die Vorschläge der Kommission reichen, kann man in ihrer Mitteilung „Schaffung einer europäischen Gesundheitsunion: Die Resilienz der EU gegenüber grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren stärken“, KOM (2020) 724 vom 11.11.2020 im Einzelnen nachlesen. Die Kommission hebt hier hervor, dass die europäischen Bürger immer deutlicher eine aktive Rolle der EU beim Schutz der Gesundheit forderten, insbesondere beim Schutz vor grenzübergreifenden Gesundheitsgefahren. Die unkoordinierten Maßnahmen zu Beginn der Krise hätten das Virus nicht wirksam bekämpfen können.

Viel Zeit für die Beratung und Annahme der Vorschläge der Kommission bleibt angesichts der dramatischen Entwicklung der Pandemie nicht. Ob die Mitgliedstaaten den Vorschlägen in allen Einzelheiten folgen werden, bleibt abzuwarten. Einerseits hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass ein Handeln (auch) auf europäischer Ebene zur Bewältigung der Krise unerlässlich ist, andererseits werden die Mitgliedstaaten penibel darauf achten, dass die Union die Krise nicht zum Anlass nimmt, ihre – wie gesagt eng gefassten – Kompetenzen im Gesundheitsbereich zu überdehnen. Übrigens, schwierige Kompetenzabgrenzungsfragen stellen sich nicht nur zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten, sie stellen sich auch innerhalb der Mitgliedstaaten. Davon können wir in Deutschland ein Lied singen. Warum sollten die Abstimmung und der Interessenausgleich zwischen Mitgliedstaaten auf EU-Ebene einfacher sein, als zwischen Bund und Ländern in Deutschland? Dass es offenbar in den Runden der Ministerpräsidenten bei der Bundeskanzlerin ähnlich zugeht wie in den Ministerräten in der EU, ist eine interessante Beobachtung.

Krisen schaffen neue Situationen. Vor einem Jahr hätte sich wohl kein Kommissionspräsident getraut, von einer „Europäischen Gesundheitsunion“ zu sprechen. Die Vorschläge der Kommission zeigen auch, dass der Handlungsspielraum der EU in Gesundheitsfragen vielleicht doch weiter ist, als bisher angenommen. Davon abgesehen berühren mögliche Maßnahmen der EU zur Bekämpfung der Pandemie auch Politikbereiche, für die die EU zweifelsfrei zuständig ist (z.B. Binnenmarkt, Handel, Wettbewerb, Forschung).

Und wieder einmal lehrt die Erfahrung: Wenn nichts Dramatisches passiert, fallen alle über Brüssels angeblichen Zentralisierungswahn her, wenn aber eine schwerwiegende Krise aufkommt, fragen alle: „Was macht eigentlich die EU?“

 

  1. Brexit

Intensive Verhandlungen über das Abkommen über eine künftige Partnerschaft zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich (VK) in den letzten Wochen haben bisher zu keinem Ergebnis geführt. Weißer Rauch ist noch nicht aufgestiegen. Viel Zeit zum Abschluss verbleibt nicht. Das Abkommen bedarf auf beiden Seiten der Ratifizierung vor Ablauf des nach dem Austritt vereinbarten Übergangszeitraums Ende des Jahres. Auf EU Seite müssen das Europäische Parlament und die Parlamente aller Mitgliedstaaten zustimmen; das erfordert vorab eine Übersetzung des Abkommens in alle 24 Amtssprachen.

Bereits seit dem Austritt des VK am 31.1. 2020 ist das sog. Austrittsabkommens in Kraft. Es regelt wichtige Austrittsmodalitäten (z.B. Aufenthaltsrechte europäischer Bürger im VK und britischer Bürger in der EU, Finanzfragen und insbes. Fragen hinsichtlich der Grenze zwischen der Irischen Republik und Nordirland), während das jetzt zu verhandelnde Abkommen die künftigen Beziehungen betrifft (insbesondere die Handelsbeziehungen).

Die von der britischen Regierung mit frappierender Offenheit eingestandene Verletzung des Austrittsabkommens durch das Anfang September im Unterhaus eingebrachte Binnenmarktgesetz („Internal Market Bill“) hat für beträchtliche Aufregung gesorgt. Das Gesetz würde es den britischen Behörden erlauben, von wesentlichen Bestimmungen des dem Abkommen beigefügten Protokolls bezüglich der Grenze zwischen der Irischen Republik und Nordirland abzuweichen. Angesichts der politischen Bedeutung des Protokolls ist das keine Kleinigkeit. Nach einem vergeblichen Ersuchen, die insofern strittigen Passagen aus dem Gesetzesentwurf zu streichen, hat die Kommission am 1.10.2020 ein förmliches Vertragsverletzungsverfahren gegen das VK eingeleitet. Gleichwohl hat das Unterhaus das Gesetz mittlerweile gebilligt; das Oberhaus hat es aber letzte Woche mit einer deutlichen Mehrheit abgelehnt. Darüber könnte sich das Unterhaus in einer weiteren Abstimmung hinwegsetzen. Möglicherweise wird es dazu aber gar nicht kommen. Immer mehr verdichtet sich nämlich die Vermutung, dass Premierminister Johnson das geplante Gesetz nur als Störmanöver für die laufenden Verhandlungen über die künftigen Beziehungen vorgelegt hat.

 

Trotz der durch die Verletzung des Austrittsabkommens hervorgerufenen Zweifel an der Vertragstreue und der Glaubwürdigkeit des VK als Vertragspartner hat die EU von einer Aussetzung der Verhandlungen über die künftige Partnerschaft klugerweise abgesehen. Eine solche Aussetzung hätte angesichts des völkerrechtswidrigen Verhaltens der britischen Regierung durchaus nahegelegen. Möglicherweise hatte die britische Seite sie auch provozieren wollen.

 

Neben einigen Verhandlungsfortschritten verzeichnete die Kommission im Oktober nach wie vor „anhaltende gravierende Divergenzen“ „bei Themen von großer Bedeutung für die Europäische Union“:

 

  • (1) Es bedürfe solider, langfristiger Garantien für einen offenen und fairen Wettbewerb mit klaren Regeln und wirksamen Durchsetzungsmechanismen, insbes. in Bezug auf die Verpflichtung des VK, die in der EU geltenden sozialen, steuerlichen, umwelt- und klimabezogenen Standards beizubehalten.
  • (2) Ein „effizienter Steuerungsrahmen … mit soliden Durchsetzungs- und Streitbeilegungsmechanismen sowie wirksamen Rechtsbehelfen“ sei angesichts des Verstoßes des VK gegen das Austrittsabkommen umso wichtiger.

 

  • (3) Schließlich bedürfe es eines stabilen, nachhaltigen und langfristigen Fischereiabkommens, „das es dem Vereinigten Königreich ermöglicht, seine Fangmöglichkeiten weiterzuentwickeln, während gleichzeitig die nachhaltige Nutzung der Ressourcen gewährleistet und die Tätigkeiten der europäischen Fischerinnen und Fischer geschützt werden.“

 

Dem Vernehmen nach sind diese drei zentralen Punkte trotz einiger Annäherungen in den Verhandlungen noch nicht gelöst. Deshalb ist offen, ob ein Partnerschaftsabkommen noch rechtzeitig zustande kommen kann und ob das auf britischer Seite überhaupt ernsthaft gewollt ist. Ein „no deal“ ist deshalb nicht ausgeschlossen ist. Die EU bereitet sich mit einer Art Notfallplan auf diese Situation vor. Jedenfalls bliebe im Falle eines „no deal“ wenigstens das Austrittsabkommens in Kraft, das einige wichtige Bereiche der Beziehungen zwischen der EU und dem VK bereits abdeckt. Die strikte Einhaltung dieses Abkommens ist insofern von überragender Bedeutung.

 

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Informations- und Diskussionsveranstaltung des Ortsverbandes zur Europawahl 2019 in der Innenstadt Oldenburg in Holstein am 4. Mai 2019

Die beigefügten Presseartikel der Lübecker Nachrichten und der Heiligenhafener Post
beschreiben umfassend die gelungene Veranstaltung.


Quelle: Heiligenhafener Post, 6. Mai 2019
Quelle: Lübecker Nachrichten

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